COVID-19 und Utilitarismus – Versuch einer medizinethischen Klärung

Die Coronavirus-Pandemie hat uns in schwerwiegende Fragen und belastende medizinische und volkswirtschaftliche Entscheide geworfen. Wir haben die Positionen in einen ethischen und medizinethischen Kontext gesetzt und Hochrechnungen einer kritischen Prüfung unterzogen.

Dieses Papier richtet sich gleichsam an alle Akteure unserer Gesundheitswesen. Wir untersuchen, inwiefern Rationierungs-Vorschläge im Zuge der Coronavirus-Pandemie als utilitaristisch zu verstehen sind und wie sie sich mit Fragen der Medizinethik, der Verteilgerechtigkeit sowie mit den demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft vertragen. Nach einem Abriss der Ideengeschichte des Utilitarismus zeigen wir auf, wie sich seine Ansätze in Gesundheitswesen im Konzept der qualitätsadjustierten Lebensjahre (QALY-Konzept) manifestieren. Die solcherart erstellten Kosten-Nutzen-Rechnungen klammern oftmals soziale Aspekte ebenso aus wie die individuelle Erfahrung von Lebensqualität. Mitunter bilden sie noch nicht einmal medizinisch-klinische Realität ab und bergen mit ihren Verzerrungen Gefahren der falschen Priorisierung sowie der Fehllenkung von Behandlungspfaden. Auch John Rawls geht in seiner Vertragstheorie «Theorie der Gerechtigkeit» von einer utilitaristischen Ausgangsposition aus, die er dann aber zum prioritaristischen Konzept eines egalitären Liberalismus’ entwickelt. Dieser Ansatz wird den Gesundheitswesen unserer Ansicht nach bes-ser gerecht. John Harris, einer der prominentesten Kritiker des QALY-Konzepts, untersucht dieses denn auch auf der Basis von Rawls Gerechtigkeitstheorie. Es ist dies im Kern eine Kritik am Axiom der endlichen Mittel. Dieses kann zu Situationen führen, in denen eine Behandlung unterlassen wird, obwohl die Mittel dafür da wären, um eine andere Behandlung zu priorisieren, bei der das Kosten-Nutzen-Verhältnis in der Kalkulation besser erscheint, obwohl es dies in der klinischen Realität und unter Einbezug sozialer Kosten unter Umständen noch nicht einmal ist. In einer Pandemie, wie wir sie jetzt haben, können solche Fehlentscheide zu vermeidbaren Todesfällen führen, denen in ihrer Systematik der Benachteiligung von alten und vorerkrankten Patientinnen und Patienten etwas Sozialdarwinistisches anhaftet. Dies zeigen wir auf und leiten daraus unsere Forderung ab, die Deutungshoheit über so zentrale Werte wie die Lebensqualität nicht allein der Gesundheitsökonomie zu über-lassen, sondern solche Werte als Souverän gemeinsam so zu verhandeln und auszuhandeln, dass Verteilgerechtigkeit angestrebt wird, die menschgegebene, nicht verhandelbare Würde respektiert und der gesellschaftliche Friede sichergestellt.

Erstellungsdatum: April 2020, Papier herunterladen